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Ina

Anpassung

Aktualisiert: 27. Okt. 2023

Es ist Tag der Deutschen Einheit, kurz nach 2 Uhr morgens und ich brenne. Ich brenne aufgrund von altem, unterdrücktem Zorn. Ich will nicht brav und angepasst sein, ich will mich nicht zurück- und an mich halten. Ich will brennen, wüten, schreien, toben… ich will zerstören – bis nichts mehr übrigbleibt. Ich bin es so leid mich an irgendwelche Regeln halten zu „müssen“, ich bin es leid gesellschaftsfähig zu bleiben, ich bin es leid mich einzusperren. Ich bin es einfach leid. Auch jetzt zügle ich mich – mal wieder. Ich befinde mich gerade in einer Stadtwohnung inmitten einer Fußgängerzone. Es ist die Wohnung einer Frau, die mich gerade 5 Minuten kennt und die Stärke sowie den Großmut besitzt mich zu sich nach Hause einzuladen und mir nicht nur Obdach zu gewähren, sondern auch das Vertrauen besitzt mich mir selbst zu überlassen; in ihrer Wohnung, ganz allein. Chapeau!


"Ich will nicht brav und angepasst sein, ich will mich nicht zurück- und an mich halten."

Also schreie ich nicht, ich zerstöre nicht. Ich halte still – mal wieder. Warum? Weil sich das so „gehört“, weil ich so erzogen wurde, weil ich so konditioniert bin. Wenn ich schreie, wecke ich die halbe Innenstadt auf. Wenn ich tobe, holen sie die Bullen auf den Plan. Wenn ich zerstöre, bin ich undankbar, verrate das Vertrauen und die Gastfreund*innenschaft dieser tollen Frau, die mich bei sich aufgenommen hat. Wenn ich mich vollumfänglich zeige, mit allem, was dazu gehört, werde ich nicht geliebt. Ich „muss“ mich beherrschen. Das Problem der Stadt, das Problem der Enge, das Problem der Gesellschaft, das Problem der Frau, das Problem der Menschheit.


"Ich „muss“ mich beherrschen. Das Problem der Stadt, das Problem der Enge, das Problem der Gesellschaft, das Problem der Frau, das Problem der Menschheit."

Klar kann ich jetzt aufstehen, mich anziehen, durch die halbe Stadt zu meinem Auto laufen, losfahren, bis ich irgendwo genug Raum zwischen mich und die Welt gebracht habe, um mich auszudehnen, um wirklich Raum einzunehmen, um mich auszuleben, um mich komplett rauszulassen. Genau – um zu…! Ich „muss“ erst Bedingungen, Einschränkungen, Hürden überwinden, um wirklich sein zu dürfen, da alles andere keinen Platz hat. Sein ist nicht gesellschaftskonform.


Versteh mich hier bitte richtig, natürlich kann ich hier und jetzt an Ort und Stelle explodieren. Niemensch kann mich daran hindern. Nur der Preis, den ich dafür zahlen „darf“, wäre wahrscheinlich ziemlich hoch – ggf. verschreckte, verärgerte Nachbar*innen, ggf. Polizei, ggf. juristische Folgen, ggf. die Enttäuschung meiner Gastgeberin, ggf. der Rauswurf und und und. Warum ggf. und Konjunktiv? Weil ich es nicht weiß. Ich kenne den realen Preis nicht, zumindest so lange nicht, bis ich es darauf ankommen lasse. Und dafür fehlt mich schlichtweg der Mut. Ich bin nicht bereit weder den möglichen noch den realen Preis zu zahlen aus Angst, sie könnten sich decken. Das fiktive Szenario möglicher gesellschaftlicher und juristischer Konsequenzen reicht vollkommen aus.


Ich lebe in einer Welt der Anpassung. Eine Welt, die ich so wahrnehme. Eine Welt der Hinderung, die mich scheinbar dazu bringt mich klein zu halten. Sie hindert mich an mir selbst? Nein, ich hindere mich selbst. Und das macht mich noch wütender. Ich wähle mich anzupassen, still zu halten, mich zu unterwerfen, mir nicht den Raum zu nehmen, den ich gerade brauche, den ich gerade will, um mich voll und ganz auszuleben. Ich erlaube es mir nicht. Und ich mache „die Anderen“ dafür verantwortlich. Ich gebe Ihnen, dem System die Schuld, dass ich nicht sein kann.


"Sie hindert mich an mir selbst? Nein, ich hindere mich selbst."

Ganz egal, ob das stimmt oder nicht, ob ich „wirklich“ in einem System lebe, das mich meiner Freiheit und Selbstentfaltung beraubt oder nicht, habe ich gewählt hier zu sein. Ich habe mich freiwillig unterworfen, sonst wäre ich nicht hier. Ich habe jeder Zeit die Wahl zu gehen und mir einen Ort, einen Raum, eine Welt zu suchen, zu erschaffen, die meinen Bedürfnissen entspricht. Tue ich das nicht, aus welchen Gründen auch immer, darf ich den jeweiligen Preis zahlen, der vorherrscht.


Das schmeckt mir nicht und da es so viel einfacher ist, meine Verantwortung abzugeben und diese lieber unter dem Deckmänntelchen der Schuld nach außen zu projizieren, koche ich jetzt im Hass auf das böse, ungerechte System vor mich hin. Darin lässt es sich so schön suhlen, was vermeintlich so viel angenehmer ist als mir eingestehen zu „müssen“, dass die einzige Person, auf die ich gerade wütend bin, ich selbst bin.

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