Ich habe Angst. Eine Aussage, vor der viele Menschen zurückschrecken. Zumindest meiner Erfahrung nach. Angeblich macht sie uns schwach, zeigt, dass wir etwas nicht im Griff haben, sich etwas unserer Kontrolle entzieht. Tja Überraschung - wir haben nichts unter Kontrolle. Und sich das mal wirklich einzugestehen, nicht als kognitives Konzept, sondern es zu fühlen, das sitzt.
Ich habe nicht unter Kontrolle, was ich verstehe, wahrnehme und für mich als Botschaft herausfiltere, vor allem solange ich mir diesem Vorgang nicht bewusst bin. Und ich habe erst recht nicht unter Kontrolle, was mein Gegenüber versteht, wahrnimmt und herausselektiert, mag ich auch noch so klar, direkt und deutlich in meinen Ausführungen sein. Schmeiß ich allein mal das Wort "Treue" in den Raum, verbirgt sich für alle höchstwahrscheinlich viel Unterschiedliches hinter diesen fünf Buchstaben. Im Grunde sind es genau fünf Buchstaben, die wir zu einem Wort zusammensetzen. Nicht mehr und nicht weniger. Jedoch verleihen wir diesem Wort eine Bedeutung und dieser wiederum geben wir eine Bewertung. Das Wort bleibt dasselbe, die Bedeutung und die Bewertung dahinter variieren maximal. Nur sind wir uns diesem Vorgang oft nicht bewusst und gehen einfach davon aus, dass unsere Bedeutungen und Bewertungen allgemeingültig sind. Oft mit fatalen Folgen.
Tatsächlich finde ich es geradezu größenwahnsinnig anzunehmen, wir würden wirklich dasselbe wahrnehmen, denken oder verstehen. Ich bin schon sehr lange der Meinung, dass wir uns häufig missverstehen, weil wir beinahe ständig von Annahmen ausgehen statt uns zu hinterfragen und offen und ehrlich auszutauschen. Das gilt für uns selbst - was verstehe ich eigentlich unter Treue? - und für den Umgang und Austausch mit anderen - was verstehst Du unter Treue? Das Buch Genesis von Veit Lindau hat das für mich nochmals präzisiert und so auf den Punkt gebracht, dass es mich nur noch mehr zum schmunzeln bis hin zum Augenrollen bringt, wenn Menschen mit der Haltung durch die Welt laufen, dass die eigene Perspektive Allgemeingültigkeit besitzt.
Wir nehmen pro Sekunde 11 Millionen Bits wahr. Das ist eine 11 mit sechs Nullen dran. Holla die Waldfee, das ist ne Menge. Also 11.000.000 Eindrücke pro Sekunde. Erschlagend. Und das wäre es auch, wenn diese schiere Menge an Bits ungefiltert in unser Bewusstsein dringen würden. Deshalb hat die Natur sich etwas Schlaues überlegt. Eine Art Türsteher*innenprinzip, den Thalamus. Er filtert unsere Wahrnehmungen entsprechend und lässt lediglich 40 Bits pro Sekunde in unser Bewusstsein treten. Also 40:11.000.000. Das nenne ich mal selektive Wahrnehmung. Dann zu behaupten oder davon überzeugt zu sein, dass meine 40 Bits genau den 40 Bits meines Gegenübers entsprechen, ist arg optimistisch. Die Realität sieht leider ganz anders aus und ist auch vollkommen ok. Das macht unsere Vielfalt ja aus, dass wir die Welt unterschiedlich begreifen. Das macht uns einzigartig, was wunderschön ist. Und es birgt Konfliktpotenzial. Diesem können wir jedoch mit Offenheit, Ehrlichkeit und Verletzlichkeit begegnen, in dem wir nichts annehmen oder als gegeben hinnehmen, sondern hinterfragen und in den Austausch treten.
"Der Thalamus ist das zentrale Integrations-, Steuerungs- und Koordinationsorgan sensibler und sensorischer Sinnessysteme. Alle sensiblen und fast alle sensorischen Informationen werden im Thalamus umgeschaltet und in Areale des Kortex weitergeleitet. Daher wird er auch als "Tor zum Bewusstsein" bezeichnet." - Quelle: kenhub.com
Ich befinde mich gerade an einem Ort, an dem ich Angst empfinde, weil ich nicht weiß, ob das, was ich für mich klar und deutlich kommuniziert habe, bei meinem Gegenüber auch tatsächlich so angekommen ist. Ich weiß es schlichtweg nicht. Und diese Unwissenheit, dieser Mangel an Klarheit raubt mir noch den letzten Nerv. Klare, offene, authentische Kommunikation ist mir unglaublich wichtig. Diese Erkenntnis ist das Schöne meiner gerade erlebten Erfahrung. Denn ich kann live und in Farbe fühlen, was es mit mir macht, wenn diese Form der Kommunikation und Klarheit nicht oder nur unzureichend stattfindet.
Mein Umgang mit dieser Situation ist offen aufzutreten, mich verletzlich zu zeigen und genau diese Kommunikationsform aktiv zu suchen bzw. herzustellen. Also habe ich mich heute Morgen nackig gemacht. Ich habe alles auf den Tisch gepackt - was ich gerade fühle, was mich beschäftigt, mich unter Druck setzt, mir Angst macht, was ich befürchte, warum ich jetzt erst um die Ecke komme, was mir fehlt usw. usw. usw. Es hat mich viel Mut gekostet, Scham spielte auch eine Rolle und ich fühle mich irgendwie klein und angreifbar. Verletzlichkeit macht eben genau das, sie macht mich verletzlich. Ich weiß nicht, was mein Gegenüber mit all dem anfängt, was ich in den Raum gegeben habe. Mal überspitzt formuliert...
Werde ich mitleidig belächelt?
Werde ich ausgelacht?
Werde ich ignoriert?
Werde ich ausgeschlossen?
Werde ich verlassen?
Das sind alles Fragen, die präsent sind und noch viele weitere. Jedoch hindern sie mich nicht daran, Themen offen anzusprechen. Denn was ist die Alternative? Aussitzen? Hoffen, dass schon alles gut wird? Annehmen, dass es schon passen wird? Meine Verantwortung abgeben und erwarten, dass andere sie tragen? Klingt alles nicht sonderlich verlockend, erst recht nicht selbstbestimmt und schon gar nicht erwachsen für mich. Ich möchte selbstbestimmt sein und danach handeln, ich möchte meine Verantwortung tragen und ich möchte (er)wachsen. Somit ist für mich Verletzlichkeit, Offenheit und klare Kommunikation alternativlos, unabhängig der Konsequenzen. Das bedeutet für mich ein authentisches Leben nach meinen Werten zu leben. Und das erfüllt mich. Für mich können aktuell die Angst nicht zu wissen, was das alles bedeutet und wie es weitergeht, mit der Freude und dem Frieden, selbstbestimmt und mir entsprechend gehandelt zu haben, koexistieren. Und das ist ein wunderschönes und selbstermächtigendes Gefühl. Denn ich mache es MIT der Angst und bin nicht im Widerstand mit ihr. Danke.
AHÈ
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