Ich befinde mich irgendwo zwischen Verständnis und Verachtung, zwischen Mitgefühl und Zorn, zwischen Nachsicht und "ALTE*R, krieg Deinen Scheiß endlich gebacken!"
Jeden Montagabend, und wenn es richtig "gut läuft" auch noch Samstagnachmittag, steht eine erbärmliche Kreatur mitten in der Einkaufspassage, macht von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch, versammelt das halbe Polizeibatallion der Stadt Halle um sich und verkündet zutiefst rassistische, sexistische sowie diskriminierende Inhalte jeglicher Abart lautstark unter meinem Fenster. Ich könnte im Strahl kotzen! Ich will ihn schütteln, mit faulen Eiern bewerfen und ihm die Zunge herausschneiden. Gleichzeitig möchte ich ihn einfach nur in den Arm nehmen und fragen: "Wo tut's weh?"
Joa... ich sehe ein zutiefst verängstigtes und verletztes Kind im Kostüm eines weißen Mittvierzigers mit Schnauzbart und Aggressionsproblem, der schlicht und ergreifend keine Verantwortung für seine eigenen Emotionen, die damit verbundenen Bewertungen und den daraus resultierenden Schmerz übernehmen will. Weil... tut ja weh. Ja, tut es und ist scheiße. UND... Deine Verantwortung! Unser aller Verantwortung.
Was tun wir Menschen uns selbst und gegenseitig an?
Wir erleben eine Situation, in der wir nicht so handeln, wie wir es uns wünschen, wie wir es uns ausgemalt haben, wie wir es von uns erwartet haben oder wie wir uns erdacht haben zu handeln. Ggf. handeln wir sogar gar nicht. Und wir werden wütend, traurig, frustriert, genervt, verbittert, aggressiv etc. darüber. Anders ausgedrückt, wir empfinden Schmerz darüber, dass wir unserem eigenen Bild weder entsprechen noch gerecht werden. Dabei geht es eventuell nur um eine kleine Sache, einen nicht akkurat gesetzten Pinselstrich. Nichts weiter. Und genau an dem hängen wir uns auf. Nicht immer, nicht zwangsläufig und doch deutlich häufiger als wir bewusst wahrnehmen.
Statt den Schmerz über unsere Selbst-Ent-Täuschung, unsere Desillusionierung da sein zu lassen, ihn zu fühlen und uns mit ihm auseinander zu setzen, projizieren wir ihn nach außen.
Gerne möchte ich auf das Wort "Selbstenttäuschung" näher eingehen. An dieser Stelle liebe ich die deutsche Sprache. Sie ist so wunderbar wörtlich zu nehmen.
Selbst - also es geht um mich, nicht um andere
Ent - irgendetwas geht, fällt weg (s. auch entledigen)
Täuschung - ein anderes Wort für Desillusionierung, Trugbild, Schwindel etc.
Wir stellen also mehr oder weniger bewusst fest, dass wir auf ein Trugbild über uns selbst hereingefallen, der Illusion auf den Leim gegangen sind. Statt uns über diese Erleuchtung zu freuen, dass sich endlich der Schleier lüftet und das preisgibt, was schon immer da war, wir es bisher nur nicht sehen konnten, weil Gründe, empfinden wir Schmerz. Vielleicht nicht mal Schmerz darüber, was wir endlich sehen/wahrnehmen können. Vielleicht Schmerz darüber, dass wir uns um uns selbst betrogen haben. Vielleicht auch eine Mischung aus beidem und noch vielem mehr.
Erfahren wir eine Selbstenttäuschung im stillen Kämmerlein, ist dieses Erlebnis bestimmt noch nicht schön und nach wie vor schmerzhaft. Nur erleben wir diese Erfahrung für uns allein, ohne Zeug*innen. Richtig komplex wird es dann und vor allem deutlich schmerzhafter, wenn Mitwirkende und Publikum im Spiel sind. Denn hier betritt Scham die Bühne. Und Scham ist eine äußerst mächtige und zutiefst unangenehme Emotion. Sie ist die Emotion mit der tiefsten Frequenz. Gerade einmal 20 Hz über dem Nullpunkt, der den physischen Tod markiert.
Abbildung: Frequenzen der Emotionen
Mich wundert es nicht, dass wir uns ungern in dieser niedrigen Schwingungsfrequenz aufhalten und den Schmerz, den Scham in uns auslöst, so schnell wie möglich wieder loswerden wollen. Nur greifen wir dabei oft zu einem Mittel, das noch mehr Leid und Scham verursacht - die Projektion. Oft nehmen wir gar nicht wahr, dass sich diese Prozesse in uns selbst abspielen und gar nichts mit dem Gegenüber zu tun haben. Wir empfinden Schmerz UND da ist ein Gegenüber. Nicht wir empfinden Schmerz aufgrund des Gegenübers.
Leider empfinden wir das oft so, dass der Ursprung, die Ursache im Gegenüber zu finden ist.
Mir geht's schleicht, weil X das gesagt hat.
Ich fühle mich elend, weil Y mich verletzt hat.
Und die Klassiker...
Du bist schuld, dass ich...
Wegen Dir...
Weil Du...
Die da haben das getan...
Die da drüben haben so geschaut...
Der da hat...
Die da hat...
Kurzfristig mag uns das erleichtern. Wenn wir das Gegenüber für unsere missliche Lage verantwortlich machen, sind wir fein raus. Nur vergessen wir dabei eine ganz wichtige Kleinigkeit. Ist das Gegenüber verantwortlich, besitzt das Gegenüber auch die Antwort. Anders formuliert, wir geben nicht nur die angebliche Schuld an das Gegenüber ab, sondern auch all unsere Stärke, all unsere Macht über uns selbst. Das Gegenüber hat die Verantwortung und kann damit tun und lassen, was es will - uns die Antwort vorenthalten, uns sie um die Hören hauen, uns eine "falsche" Antwort geben und uns damit manipulieren usw. Das kann erneut Schmerz und Scham auslösen, wir fühlen uns ggf. hilflos und ausgeliefert, projizieren noch mehr Schuld auf das Gegenüber statt Verantwortung zu übernehmen und uns unsere Macht zurückzuholen. Ein wahrer Teufelskreis, der bis in die Ohnmacht (ohne Macht) führen kann, da wir all unsere Macht über uns selbst nach außen geben. Dass wir uns in diesem Zustand buchstäblich wie ein Opfer fühlen, kann ich nachvollziehen. Und ist leider hausgemacht.
Ich fasse gerne nochmal zusammen. Das etwas überspitzt, damit es klarer wird. Wir erleben etwas, dass es uns ermöglicht uns klarer zu sehen, als jemals zuvor. Wir erfahren eine Selbstenttäuschung. Statt diese Klarheit für unsere Entwicklung und unseren Wachstum zu nutzen, empfinden wir Schmerz und Scham unserem eigenen Trugbild aufgesessen zu sein, und projizieren all unsere Macht in Form von Schuld auf das Gegenüber, welches nun Alleinherrscher*in über die Antwort ist, die uns helfen könnte, unseren ureigenen Schmerz und die damit verbundene Scham aufzulösen. Statt hier aufzuwachen, in die Verantwortung zu gehen und uns selbst zu ermächtigen, also unsere Macht zu uns zurückzuholen, spielen wir das Spiel solange, bis wir vollends in unserer Opferrolle aufgehen und uns ziellos im Kreis drehen. Prima...
Und das alles nur, weil es vermeintlich so viel leichter ist und sich angeblich so viel "besser" anfühlt mit dem Finger auf andere zu zeigen statt Verantwortung für die eigenen Gefühle und die damit verbundenen Bewertungen zu übernehmen. Was dadurch entstehen kann, dürfen wir tagtäglich überall auf der Welt bestaunen.
Meine zutiefst empfundene Herzensbitte an uns alle - Lasst uns bitte endlich Verantwortung für uns selbst über- und unseren Schmerz annehmen.
AHÉ
"Selbstermächtigung bedeutet Verantwortung übernehmen."
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