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Ina

Weg-Ziel-Konflikt

Kennst du das, wenn dich jemand fragt „hey, wie geht’s dir?“ und du aus irgendeinem unerfindlichen Grund nicht weißt, was du antworten sollst, weil irgendwie nichts zu passen scheint? Kennst du das, wenn du vor lauter Suchen nach dem, was dich erfüllen könnte, dir der Spaß am Leben abhandenkommt?


Statt mich diesem Text zu widmen, sollte ich eigentlich viel dringender meine Thesis über die Ausbalancierung des Agni mithilfe von ayurvedischer Ernährung und Yogaübungen schreiben. Aber, wer hätte es gedacht, ich kann mich gerade so gar nicht dafür begeistern. Auch sollte ich eigentlich noch schlafen. Ich bin hundemüde und seit ca. 4:30 Uhr wach. Jetzt, ungefähr eine Stunde später und mit schon längst losgerattertem Gedankenzug, sitze ich vor dem Laptop und habe wieder mal eine neue, eher alte Idee – nämlich ein Buch zu schreiben. Jetzt liege ich mit Laptop im Bett, um den Pseudoglanz der „ich-schlafe-vielleicht-wieder-ein“-Illusion aufrecht zu erhalten. Naja, ein Versuch wars wert.


Kennt ihr das, wenn ihr mit vollem Eifer irgendetwas beginnt und auf halber Strecke die Lust verliert, ohne zu wissen, warum? Ich weiß nicht, wie oft in meinem Leben mir das inzwischen schon passiert ist. Es ist nicht zwingend so, dass ich Dinge anfange und sie dann nicht zu Ende bringe. Zugegeben, dieses Phänomen tritt ebenfalls in meinem Leben auf, ist aber nicht der Knackpunkt. Es ist viel mehr so, sobald ich eine gewisse Tiefe erreicht, mich eine spezifische Zeit mit ein und demselben Thema beschäftigt oder dieses in eine Art von Routine transferieren müsste, um das Erlernte umzusetzen, geht das Feuer aus. Keine Begeisterung mehr. Keine Energie. Keine Ideen. Leere. Als wäre dem Motor plötzlich der Brennstoff entzogen worden. Im ersten Moment halte ich das meist für eine kurze Durststrecke, einen kurzzeitigen Energieverlust, ein emotionales Down oder PMS. Aber bald schon merke ich, dass das nicht nur ein vorübergehender Zustand, sondern das Ende ist.


Meist läuft ein ähnliches Schema ab...

  • phänomenale Idee

  • voller Fokus & Zielgerichtetheit

  • Energie hineinpumpen bis zum Geht-nicht-mehr aka volle Verausgabung

  • Erstzielerreichung/Umsetzung

  • Machen – Erfahren – Lust verlieren – Durchbeißen – Ausgelaugt fühlen

  • neues Thema suchen

  • nächste Begeisterungswelle

  • IST-Situation ändern

...und wieder geht das Ganze von vorne los.


Bestes Beispiel hierfür ist meine Weltreise. Für dieses Projekt habe ich mein gesamtes altes Leben über Bord geworfen. Innerhalb von fünf Monaten habe ich alles abgewickelt, was für einen formvollendeten Ausstieg nötig war. Eine Mammutaufgabe. Und ich habe sie geschafft. Als freigewählte Vollzeit-Arbeits-, Obdach- und Heimatlose bin ich mit dem Rucksack durch die Welt getingelt. Spätestens nach drei Monaten wollte ich das Land wechseln, weil ich dessen überdrüssig wurde. Und nach neunmonatigem, ununterbrochenem Reisen auf beinahe jede erdenkliche Art hatte ich keine Lust mehr drauf. Ich war mit dem Rucksack unterwegs, habe bei und mit Einheimischen gelebt, deren Gebräuche, Sitten und Lebensweisen beobachtet und miterlebt, bin von Hostel zu Hostel gepilgert, war in Airbnbs, bin mit allerlei öffentlicher Verkehrsmittel gefahren, habe alles Mögliche an neuem, ungewöhnlichen Essen ausprobiert, habe im Dschungel gelebt, war auf über 5.000 Metern im Himalaya unterwegs, habe afrikanische Savannen durchstreift, habe Löwen beim Sonnenbaden beobachtet, war mit Seehunden schnorcheln und mit Delfinen auf Bootstour, habe schneeweiße Sandstrände, und türkis-blaues Wasser gesehen.


Natürlich gäbe es noch eine Menge mehr zu entdecken. Die Welt ist groß, wunderschön und einzigartig in ihren unzähligen Manifestationen. Dennoch haben diese bisherigen Erlebnisse ausgereicht, um mir das Gefühl zu geben, dass es reicht. Ich habe meine Sättigungsgrenze erreicht. Jeder noch so wundervolle, magische, grandiose Wasserfall, jede neue sagenumwobene Bucht und jedes noch so tiefe Dschungeldickicht sehen dann doch irgendwann so aus wie alle anderen. Objektiv gesehen kann ich dem allen nach wie vor unheimlich viel abgewinnen und deren Schönheit anerkennen. Aber in meinem Inneren regt sich nicht mehr viel bzw. nur ganz kurz etwas. Der Wow-Effekt ist flöten gegangen.


Ist das der Grund, weshalb der Mensch dazu tendiert, immer MEHR haben zu wollen, haben zu müssen? Um nicht zu ermatten? Und dabei möchte ich betonen, dass dieses „Haben“ sehr subjektiv zu definieren ist. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft setzen „haben“ größtenteils mit „besitzen“. Mein „Haben“ hat sich zwischenzeitlich etwas gewandelt. Zwar wünsche ich mir immer noch mehrere Millionen im Lotto zu gewinnen und das Geld tatsächlich für ähnliche Dinge ausgeben, aber die Intention und die Richtung dahinter haben sich vollkommen verändert. Früher hätte ich gerne in ein schnelles, schickes Auto, ein pompöses Eigenheim und wunderschöne Luxus- und Wellnessreisen investiert. Wenn ich heute an ein Auto denke, hätte ich gerne einen Van, ausgestattet nach meinen Vorstellungen, damit ich mein mobiles Zuhause einfach mit auf Reisen nehmen kann und meinen SafeSpace immer dabeihabe. Mein früher ach so pompöses Eigenheim wäre jetzt ein Art Natur-, Wald- und Wiesenhof irgendwo abseits im Landhausstil mit Kräuterküche, Obstgarten, Waldanschluss und Hofladen. Und Reisen würde ich als Mix zwischen Vanlife, Wellness in Südtirol und Sozialprojekte in Ländern mit Hilfebedarf beschreiben. Die wesentliche Veränderung ist in den Werten und darauf basierenden Zielen zu finden. Mein „Haben“ war früher nach Außen gerichtet, um Aufmerksamkeit, Bewunderung und vielleicht sogar Neid zu erzielen. Heute ist es nach innen gerichtet, zu mir, auf das, was ich will und mir guttut, unabhängig von den Meinungen, Haltungen und Limitierungen anderer. Ein Umstand, der mich unheimlich freut, glücklich und stolz macht. Dennoch behebt er nicht das eigentliche Problem. Und ist es überhaupt ein Problem?


"Ist das der Grund, weshalb der Mensch dazu tendiert, immer MEHR haben zu wollen, haben zu müssen? Um nicht zu ermatten?"

Ist alles, was nicht genau so läuft wie wir es uns vorstellt haben, ein Problem? Mit dieser Grundeinstellung wäre ich auf jeden Fall ein laufendes Problem auf zwei Beinen. Nichts in meinem Leben ist bisher so gelaufen wie ich es mir vorgestellt hatte. Und wieder einmal fühle ich mich nach rastlos, nicht angekommen und ratlos. Erneut habe ich einen Punkt in meinem Leben erreicht, an dem ich feststecke. Mit dem Unterschied, dass ich mich dieses Mal mitten drin statt nur dabei befinde. Statt mit gigantischer Zeitverzögerung irgendwann X Monate später festzustellen, dass ich vollkommen drüber bin, erlebe ich dieses Gefühl hautnah im Hier und Jetzt. Also gleichzeitig mit und innerhalb des Prozesses. Ein positiverer Mensch würde das als absoluten Siegeszug feiern, sich endlich so nah zu sein und sich live und in Farbe bei einer neuen Sackgassenerkundung beobachten zu können. Ich hingegen empfinde es als ermüdend, anstrengend und nervtötend. Schon wieder eine Sackgasse. Schon wieder etwas Neues suchen müssen. Wieder nicht der erhoffte Goldtopf am Ende des Regenbogens. Der ein oder andere innere Kritiker möchte die Frage einbringen, ob ich nicht einfach nur zu früh aufgebe, nicht ausdauernd genug alle Ecken absuche oder einfach mit Dürreperioden nicht gut umgehen könne. Ja, mag sein. Das könnte alles zutreffen. Gleichzeitig holt eine andere, deutlich wahrnehmbare Stimme zum Gegenschlag aus: „Wann ist genug, genug?“


"Wann ist genug, genug?"

Woher wissen wir, ob wir auf verlorenem Posten kämpfen? Wann wissen wir, dass wir den Kampf bereits verloren haben? Wann ist es wichtig zu bleiben? Oder doch besser zu gehen? Woher sollen wir all das wissen? In der Schule habe ich sie jedenfalls nicht gelernt. Und auch zuhause sah es dahingehend etwas mau aus. Gestern erst habe ich einem Vlog eine interessante Sicht zu diesem Thema gehört. Sie lautete: „Anstatt seinen Purpose zu suchen oder die ultimativen Ziele im Leben zu erreichen, ist es sinnvoll seinen eigenen, inneren Kompass in sich zu erschaffen, der einen von selbst in das Leben führt, das wir uns wünschen, ohne ständig über unseren Zweck nachdenken zu müssen.“ (aus dem Buch „Warum Ziele Quatsch sind - und wie wir sie trotzdem erreichen: Die Kraft der inneren Ausrichtung“ von Stefan Frädrich) Diese Aussage rührt etwas tief in mir.


"Woher wissen wir, ob wir auf verlorenem Posten kämpfen? Wann wissen wir, dass wir den Kampf bereits verloren haben? Wann ist es wichtig zu bleiben? Oder doch besser zu gehen? Woher sollen wir all das wissen?"

Mein ganzes Leben war und ist immer noch auf Ziele ausgerichtet, genauer gesagt auf die Zielerreichung. Habe ich ein Ziel erreicht, verliere ich die Lust an dem, was mich bis zu diesem Zeitpunkt maximal beschäftigt hat. Ich wende mich ab und bin wieder auf der Suche nach einer neuen Aufgabe, der ich mich vollkommen widmen kann. Das Motto „Der Weg ist das Ziel“ scheint bei mir noch nicht angekommen zu sein.

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